Am vergangenen Sonntag habe ich Deutschlands bekanntesten Neurobiologen und Gehirnforscher, Prof. Dr. Gerald Hüther, von dem ich schon einige Bücher gelesen und einige Vorträge auf DVD oder bei Youtube gesehen habe, persönlich und live erleben dürfen.
Er hielt in der Nazareth-Kirche in Berlin-Wedding einen Vortrag mit dem Titel „Das Geheimnis des Gelingens“. Dieser Vortrag wurde von den Betreibern des „Kino & Café am Ufer“ so organisiert, dass er gehirngerecht aufbereitet war: Prof. Hüther hielt den Vortrag in drei Teilen zu je ca. 20 Minuten. Dazwischen gab es Live-Klezmermusik, denn kein Mensch kann einem Vortrag konzentriert 60 min am Stück lauschen.
Was ich cool fand: Prof. Dr. Hüther kam an, setzte sich in die erste Reihe, redete mit einigen Menschen und ließ sich auch von den Schwierigkeiten mit der Akustik nicht aus der Ruhe bringen. Er wirkte überhaupt nicht wie einer, der jetzt gleich einen spannenden Vortrag halten würde, sondern eher wie einer, mit dem man in der Kneipe auch mal ein Bier trinken und über Gott und die Welt reden kann.
Die Gesellschaft
Im Vortrag ging es hauptsächlich darum, wie es uns gelingen kann, die Gesellschaft, die wir jetzt haben und von der wir ja mittlerweile wissen, dass sie so auf Dauer nicht mehr weiter funktioniert, zum Positiven zu verändern. Er erklärte, dass es im Gehirn neuroplastische Botenstoffe gibt und dass diese, wenn Menschen etwas mit Begeisterung tun, so im Gehirn gebildet werden, als würde jemand mit einer Düngergießkanne eine Pflanze begießen.
Das heißt, das Gehirn bildet sich so aus, wie und wofür man es mit Begeisterung benutzt. Studien haben gezeigt, dass viele Sechzehnjährige vom Simsen (ich habe extra in der Wikipedia nachgeschaut – das Wort gibt es wirklich) eine Vergrößerung eines bestimmten Gebietes im Gehirn haben. Musiker haben wieder andere Hirnareale deutlicher ausgebildet etc.
In unserer Gesellschaft ist es ja sehr oft so, dass Menschen funktionieren müssen. Da fehlen die Freude und Begeisterung, mit der man sich den Dingen hingeben kann. Glaubst Du nicht? Dann empfehle ich Dir mal eine Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Berlin in der Rush Hour. Und dann schau‘ Dir die Menschen an. Es ist sehr deutlich zu erkennen.
Oder stelle Dich in Berlin in der Rush Hour an einen Zebrastreifen und beobachte die Autofahrer. Das ist auch nicht anders. In unserer Gesellschaft sind die meisten Menschen eher entgeistert als begeistert. Wir entgeistern uns in dieser Gesellschaft gegenseitig, z.B. durch Abwertungen anderer.
Begeisterung wecken
Da ergibt sich gleich die Frage: Wie kann Begeisterung geweckt werden? Wie kann die Neugier wieder geweckt werden? Wobei das Wort „Neugier“ vom Ansatz her ja auch schon ziemlich schräg ist. Prof. Hüther meinte, „Entdeckerfreude“ wäre das geeignetere Wort. In dem Wort „Neugier“ steckt die Gier und Gier ist ja bekanntlich negativ besetzt. Sicher hast Du auch in Deiner Kindheit schon den Satz „Sei nicht so neugierig“ hören müssen. Ich kenne den sehr gut.
Begeistern können wir uns nur für Dinge, die uns wichtig sind. Und was sind nun die grundlegenden Erfahrungen, die Menschen benötigen?
- Verbundenheit
- Freiheit und Autonomie
Verbundenheit ist die Erfahrung, die wir im Mutterleib schon machen. Gleichzeitig möchten wir aber auch wachsen und unsere Möglichkeiten finden, autonom und frei zu werden. Und das muss kein Widerspruch sein.
Prof. Hüther sprach darüber, was passiert, wenn Menschen das, was sie eigentlich brauchen, nicht bekommen: Dann wird nämlich dieser Schmerz im Gehirn so groß, dass er kaum auszuhalten ist und dann suchen sich Menschen eine Ersatzbefriedigung (Alkohol, Rauchen, Spielen, Flucht in Arbeit, Konsum, Fernsehen etc.). Je besser Menschen daran gehindert werden, ihr Potenzial zu entfalten, desto bessere Konsumenten werden sie!!!
Das Gelingen und Shared Attention
Es ist sehr verführerisch, kurzfristig bestimmte Ziele zu erreichen, gerade wenn es einem nicht so gut geht. Weil der Mensch bedürftig ist, eignet er sich Macht an. Erfolgreich zu sein, hat sich in unserer Gesellschaft wie die Pest ausgebreitet und verletzt das Grundbedürfnis nach Verbundenheit.
Hüther sprach darüber, dass es im Englischen das Wort „Gelingen“ gar nicht gibt. Gelingen, das ist etwas, was keiner „machen“ kann. Das ist wie beim Backen eines Kuchens: Er wird angerührt, in den Ofen geschoben und dann kann ich nur sagen: „Ich habe alles getan. Möge der Kuchen gelingen.“ Ob er gelungen ist, sehe ich dann, wenn ich ihn aus dem Backofen hole.
Kein Mensch würde sagen, der Kuchen ist „erfolgreich geworden“. Genauso wie ein Leben mit dem Tod nicht erfolgreich abgeschlossen werden kann. Aber: Es kann ein gelungenes Leben gewesen sein.
Gelingen heißt, ich weiß innerlich, wie es werden könnte. Ich tue mein Bestes dazu und: Es ereignet sich…
Aus unserem Schulsystem, so sagte Hüther unter großem Beifall, kommen als Elite besonders angepasste, leidenschaftslose Menschen heraus, die auf allen Gebieten gut sind, aber keine Begeisterung für ein bestimmtes Gebiet haben. Er betonte auch die Wichtigkeit von Erfahrungen unter den Aspekten „Wie bin ich durch die Erfahrung gegangen? und „Was ist dabei herausgekommen?“
Oft ist es ja so, dass sich Erfahrungen im Gehirn ungünstig verknüpfen, weil sowohl das kognitive als auch das emotionale Netzwerk im Gehirn angesprochen werden. Wer z.B. in der Kindheit gern gesungen hat und dann vom Lehrer gesagt bekam, dass er gar nicht singen könne, verknüpft unbewusst den Schmerz über das Gesagte mit dem Singen und wird sicher so lange eine stark getrübte Freude am Singen haben, bis er in dieser Hinsicht wieder eine positive Erfahrung machen kann.
In dem Zusammenhang ging er kurz auf das Salutogenese-Konzept von Antonovsky ein und kam dann zu dem Punkt: „Wie können wir eine individualisierte Gemeinschaft schaffen?“ Unter einer individualisierten Gemeinschaft versteht Hüther, dass Menschen sich um etwas kümmern und jeder seinen Part hat – alle gucken gemeinsam auf etwas Drittes. Im Englischen wird das „Shared Attention“ genannt.
Er rief dazu auf, dass sich Menschen – je unterschiedlicher, desto besser – unter diesem Shared-Attention-Aspekt zusammenfinden, um die Zustände, die wir derzeit in unserer Gesellschaft haben, zu verändern, denn die Politik und die Wirtschaft können diese nicht verändern. Diese Veränderung kann nur von den einzelnen Menschen eingeleitet werden und er gab sich überzeugt davon, dass das eine sehr große Kraft hat.
Fazit
Der Vortrag endete mit einem großen Applaus. Viele der Zuhörer waren sehr berührt, denn Prof. Dr. Hüther hat nicht nur über Begeisterung gesprochen, sondern er versteht es auch zu begeistern. Meine Freundin und ich waren nach dem Vortrag jedenfalls total inspiriert. Hier findest Du einen Auszug aus dem neuesten Buch von Prof. Dr. Hüther „Wer wir sind und was wir sein könnten“. Den Vortrag, den ich am Sonntag gehört habe, gibt es in ca. 6 Monaten auf DVD. Und hier habe ich für Dich noch einen anderen interessanten Vortrag von ihm.
Kürzlich habe ich auf Youtube ein Video über eine russische Schule, die Schetinin-Schule, gefunden, an der sich Prof. Hüther mit Sicherheit sehr erfreuen würde. Schau einfach mal rein. Ich finde das super interessant. Okay, die Übersetzung ist jetzt nicht so der Burner, aber es geht ja um die Botschaft:
Liebe Heike! ♥
Herzlichen Dank für Ihren Kommentar über das Gelingen.
Ich freue mich sehr, dass Sie das Gedankengut von Prof. Dr. Gerald Hüther auf Ihrer Webseite öffentlich gemacht haben.
♣ Entdeckerfreudigkeit anstatt Neugierde,
♣ Entdeckerlust statt Frust,
♣ Potentiale entfalten anstatt „erziehen“.
Lernen kann Spaß machen – in einer Lernumgebung, in der sich jeder verbunden, wertvoll und angenommen fühlt.
♥ Verbundenheit und Autonomie …
♥ Gemeinsamkeit und Selbstständigkeit …
♥ Begeisterung ist das Zauberwort.
Ich wünsche Ihnen spannende Momente und
viele wertvolle Begegnungen, liebe ♥ Heike!
Herzliche Frühlingsgrüße
aus dem sonnigen Oberbayern
Manuela Engl
Hallo, liebe Manuela,
vielen Dank für Ihren tollen Kommentar. Da ich aus eigener Erfahrung sehr gut kenne, wie öde Lernen sein kann, wenn Unterrichtsstoff einfach nur „vorgekaut“ wird, weder gehirngerecht aufbereitet noch mit Freude vermittelt, interessiert mich das, was Prof. Dr. Hüther erforscht hat, sehr. Deshalb bin ich auch zu dem Vortrag gegangen und dachte mir, das könnte auch noch andere Menschen interessieren. Spannend finde ich ja auch die Thematik „Shared Attention“.
Dankeschön auch für die vielen lieben Wünsche.
Ich wünsche Ihnen viele interessante Erfahrungen und genießen Sie den herrlichen Frühling
Heike
Liebe Heike,
herzlichen Dank für Deine interessante Schilderung.
Diese grundlegenden Erfahrungen zwischen Verbundenheit und Freiheit, Autonomie, die unsere menschliche Entwicklung beschreibt, finde ich sehr spannend.
Prof. Dr. Gerald Hüter ist ein begnadeter Redner, der mich, uns Zusammenhänge erkennen lässt, wie unsere selektiven Wahrnehmungen im Gehirn unsere Empfinden, Gefühle und Wahrnehmen lenken und beeinflussen.
In dieser bewegten Zeit der Veränderungen, wo unsere Einstellungen und Werte sich wandeln und mehr herzbetonter werden, ist es der kreative Schlüssel, die „Be-Geisterung“ über unsere Fähigkeit, achtsamer in uns hinein zu spüren und uns dabei zu fühlen.
Wie fühlt sich etwas an, wenn ich nach innen lausche und bewusst mein Bedürfnis, es zu benennen und zu urteilen, für Momente zurückstelle?
Gibt es dabei eine Lücke, ein Staunen über uns selbst, wenn wir unsere üblichen Schablonen und gleichzeitig unsere ungefilterten Wahrnehmungen erlauben, nebeneinander wirken zu können?
Dieser sich öffnende Zwischenraum lässt uns teilhaben an dem, was als bewusstes Sein, als gelebte Potentialität bezeichnet wird und mit der sich unser Körper stimmiger erspüren kann.
Herzliche Grüße
Klaus
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http://www.seelencoaching2012.de
Lieber Klaus,
vielen Dank für Deine Darlegung, aus der ich einen Zusammenhang zwischen den Erkenntnissen von Prof. Dr. Hüther und Eckhart Tolle erkennen kann, was ich ganz faszinierend finde. Und ja, natürlich ist da ein Zusammenhang, denn auch Neurobiologie und Mystik kommen in dieser Zeit immer mehr zusammen.
Prof. Dr. Hüther ist übrigens bald wieder in Berlin: Am 02.04.12 hält er einen Vortrag in der Urania.
Liebe Grüße,
Heike