Vortrag von Dr. Udo Baer zum Thema „Wie Traumata in die nächste Generation wirken“ (transgeneratives/transgenerationales Trauma)

In der vorigen Woche war ich mal wieder in Berlin zum Thema Trauma unterwegs. Dr. Udo Baer, ein Pädagoge, Autor und Therapeut, hatte sich mit dem o.g. Vortrag angesagt. Vor einigen Monaten fiel meine Aufmerksamkeit auf die Bücher von Sabine Bode, die hier in Deutschland Pionierarbeit zur Thematik der Kriegskinder, Kriegsenkel (= die Kinder der Kriegskinder, die genaue Definition findest Du hier) und dem transgenerativen Trauma leistet.

Ich habe seit diesem Zeitpunkt eine Menge Bücher über die Kriegsenkel-Thematik gelesen, allerdings nie in einem Rutsch, sondern immmer wohldosiert, weil sie mich emotional sehr stark bewegt haben. Ich bin bei Facebook zwei Kriegsenkel-Gruppen beigetreten und erhalte dadurch zu dieser Thematik immer wieder sehr wertvolle Informationen. So auch den Hinweis auf den Vortrag von Udo Baer.

Da ich selbst Betroffene bin – meine ganze Familie und Verwandtschaft besteht aus Flüchtlingen von jenseits der Oder und ich bin mit dreien von ihnen aufgewachsen (Vater, Mutter und Oma), habe ich in dem Zusammenhang auch Dr. Baers wunderbares Buch über transgenerative Traumata, also Traumata, die über die Generationen weiter vererbt werden, gelesen. Nun wollte ich den Autor bei seinem Vortrag erleben…

 

Traumaerfahrungen

Der Vortrag fand statt im Südost Europa Kultur e.V., einem Verein, von dessen Existenz ich bis vor Kurzem noch gar nichts wusste und der Flüchtlinge aus allen Ländern unterstützt, integriert, berät und betreut. Die Geschäftsführerin, Bosiljka Schedlich, ist für ihre Arbeit in diesem Verein und in der Stiftung ÜBERBRÜCKEN bereits sehr oft geehrt worden, u. a. mit dem Bundesverdienstkreuz.

Der Vortrag war sehr gut besucht und in den ersten Minuten wurden immer noch Stühle für diejenigen bereitgestellt, die zu spät kamen. Ein gutes Zeichen, denn das zeugt aus meiner Sicht davon, dass die Thematik der transgenerativen Weitergabe von Traumata mehr ins Bewusstsein der Menschen eindringt.

Frau Schedlich erzählte zunächst kurz über die Arbeit des Vereins, darüber, wie sie auf Dr. Baer aufmerksam wurde und übergab ihm dann das Wort. Dr. Baer stellte sich vor und ging gleich zum Thema Traumaerfahrungen über.

Es gibt 4 Traumaerfahrungen, nämlich:

  1. Schrecken
  2. Verluste
  3. Schmerz ohne Trost
  4. Das schwarze Loch

I. Menschen, die traumatisiert sind, tragen einen Schrecken in sich. Wenn sie Kinder haben, dann spüren auch die Kinder diesen Schrecken. Die Kinder bekommen „riesengroße Eselsohren“, fahren ihre feinen Antennen viel mehr als andere Kinder aus, sprich: Sie wissen genau, was los ist, auch wenn die Eltern schweigen.

Kinder spüren diesen Schrecken. Sie fühlen sich verantwortlich, wollen helfen. Wenn sie nicht helfen können, fühlen sie sich schuldig. Oft erahnen die Kinder den Schrecken und die Eltern schweigen. Es wird über emotionale Belange nicht oder nur sehr selten gesprochen – zu furchtbar ist das Trauma für die Eltern.

Wenn die Kinder fragen und keine Antworten von den Eltern bekommen, hören sie irgendwann auf zu fragen, befinden sich aber weiterhin im Zwiespalt zwischen dem, was die Eltern nonverbal kommunizieren und dem, was sie über Sprache ausdrücken (Doppelbotschaften – Doublebind).

 

II. Traumatisierte Menschen haben etwas verloren: Heimat, Selbstsicherheit, Selbstverständlichkeit, Angehörige, Träume, Hoffnungen. Darüber zu trauern, steht an, aber sie können oft nicht trauern. Diese Menschen sind oft allein oder allein gelassen, haben keine Gelegenheit zum Reden. Mit jeder Träne, die fließen würde, würde auch ein Stück des Schmerzes diese Menschen verlassen. Aber oft geht es – z.B. nach einer Flucht – zunächst darum, sich eine Existenz aufzubauen und es ist keine Zeit zum Trauern.

Trauer zu teilen, das wäre eine große Hilfe, denn wenn das nicht geschieht, kann die folgende Generation auch wieder nicht trauern – woher sollten Kinder das denn lernen, wenn nicht von ihren Eltern?

Hier in Deutschland gibt es, resultierend aus zwei Weltkriegen mit all ihren Folgen, einen regelrechten Trauerstau. Und erst jetzt, so viele Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges, fängt das Thema an, mehr und mehr ins Bewusstsein der Menschen zu treten. Irgendwo habe ich mal Folgendes gelesen: Unsere Eltern haben nach dem 2. Weltkrieg die Trümmer beseitigt. Wir sind die Generation, die die seelischen Trümmer beseitigt. Ich finde, das bringt es auf den Punkt.

 

III. Traumatisierte Menschen haben Schmerzen. Körperliche und seelische Schmerzen. Es war niemand da, der sich nach dem Trauma um sie kümmerte und statt zu klagen, verstummten sie und arbeiteten. Es musste ja weiter gehen. Sie wollten, dass es ihre Kinder einmal besser haben.

Sie versuchten, ihren Schmerz durch Leistungsorientierung zu bewältigen. Das funktioniert aber leider nur begrenzt und jetzt, zu dieser Zeit, in der die Kriegskinder alt sind und die Bewältigungsstrategie durch Arbeiten aufgrund des körperlichen Zustandes nicht mehr greifen kann, dringt Vieles, was sie früher ins Unbewusste drücken konnten, nach oben. Hier eine hochinteressante Doku zu diesem Thema:

 

IV. Die Kinder spüren eine Leere in den Eltern, zwischen den Eltern und später auch selbst in sich. Diese Leere wird versucht, durch Leistung, Süchte etc. zu bekämpfen. Es darf innerlich nicht ruhig werden. Das Leben soll eine einzige Party sein. Eine Pause darf nicht stattfinden.

Es ist ein Gefühl von „immer auf dem Sprung sein“, ein Gefühl von rasender Beschleunigung, das aber völlig normal erscheint, weil es ja von den Eltern so vorgelebt wird. Das schwarze Loch zieht Energie an. Die Kinder strengen sich an, um die Anforderungen der Eltern zu erreichen – vergeblich. Sie müssen erst einmal ein „eigener Mensch“ (so nenne ich es gern) werden, sich ihr Scheitern eingestehen. Sie müssen sich eingestehen, dass sie die Eltern nicht retten können.

 

Wie fühlt sich Trauma an?

Traumatisierte Menschen leiden unter diffusen Ängsten. Manche Ängste haben einen bestimmten Anlass, andere wieder nicht. Hier hilft es, sich bewusst zu machen: Welche Ängste sind begründet und welche nicht? Die, die nicht begründet sind, sind oft von den Eltern übernommene Ängste. Es kommen Scham- und Schuldgefühle hinzu. Opfer schämen sich! Kinder fühlen sich schuldig, wenn sie die Eltern nicht retten können.

Überlebende schämen sich, fühlen sich schuldig, weil sie überlebt haben. Bei Flüchtlingen kommt oft die Thematik dazu: Bloß nicht den Kopf zu weit herausstrecken. Das führt dazu, dass die zweite Generation oft keine gute Position im Job findet. Sie sind zwar unermüdlich, arbeiten oft über ihre Kraft hinaus (Möglicherweise ist das ein Indiz auf die vielen Burn-Out-Erkrankungen, die es derzeit gibt?) und fahren nicht die Früchte ihrer Leistung ein. Sie haben eine mangelnde Selbstsicherheit und können Komplimente schlecht annehmen.

Ein weiterer Aspekt ist „der Abgrund“. Traumatisierte Menschen haben Gefühle und Träume vom Abgrund, von Klippen, Träume vom Fallen (ich falle gleich). In der zweiten Generation sind diese Gefühle und Träume noch viel weniger greifbar. Hierzu ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung:

Vor einigen Monaten half ich meinen Eltern beim Aufräumen eines Schuppens. Irgendwann reagierte meine Mutter recht komisch und ich fragte sie, wie es sich für sie anfühlt, wenn sie Dinge wegwirft. Während sie noch nach Worten rang, beschrieb ich ihr exakt das Gefühl mit den Worten: „Es ist wie ein Fallen, du fällst immer weiter, bis in den Erdkern hinein, weiter und weiter und es hört einfach nicht auf.“

Sie sah mich mit großen Augen an, völlig erstaunt, und sagte mir, ja, genau so fühlt sich das an. Das erzeugte ein unbeschreibliches Gefühl von tiefer Berührung und Gemeinsamkeit zwischen uns in mir und ich erklärte ihr in kurzen Worten, dass das überhaupt nicht verwunderlich ist. Ich hatte kurz vorher diesen Artikel von Esther Schweins gelesen und berichtete meiner Mutter davon.

Für Traumatisierte ist das Leben eine große Last. Sie haben das Gefühl der Anstrengung, sind streng zu sich selbst, haben aufgrund der inneren Leere kein Maß davon, wie viel genug ist. Und genau dieses Gefühl überträgt sich auch auf die folgende(n) Generation(en).

 

Was hilft?

Verstehen verringert die Last. In Familien, in denen die Eltern traumatisiert sind, weiß oft keiner so recht, wo er selbst anfängt und der Andere aufhört. Es ist wie eine Suppe. Oder wie ein Wollknäuel. Im Wollknäuel sieht man schlecht. 😉

Hier ist es ganz wichtig, einen Schritt zur Seite zu treten, um den Blick frei zu haben auf die Eltern und zu gucken: Was ist meins? Was gehört jemand anderem? Gut ist auch, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen und das Schweigen zu durchbrechen.

Oft befinden sich die Menschen der traumatisierten Generation im Zwiespalt: Sie möchten gern reden, besonders, wenn sie alt sind, aber sie trauen sich oft nicht. Hier ist es gut, zu signalisieren: Ich bin da, wenn du reden willst. Ich habe Interesse an dir.

Alternativ, wenn die Eltern schon tot sind, ist es hilfreich, Zeitzeugen zu befragen, um Informationen über die eigenen Wurzeln zu bekommen und sich ein Bild aus der Zeit vom Leben des Traumatisierten zu machen. Mich selbst hat Geschichte und insbesondere die Geschichte meiner Familie früher überhaupt nicht interessiert. Ich wollte meine Ruhe haben, nicht dazugehören und fertig.

Mittlerweile merke ich, ins Gespräch zu kommen, Anteil zu nehmen am Schicksal der Eltern, das ist nicht nur für sie hilfreich, sondern auch für mich. Die eigenen Wurzeln, das ist ja eine Thematik, mit der wir Deutschen uns aufgrund unserer Geschichte sehr schwer tun. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen: Es lohnt sich, sich mit seinen Wurzeln und seiner Familiengeschichte zu befassen!

Das heißt nicht, dass die Kinder den Eltern alles verzeihen sollen. Es geht darum, die Dinge nebeneinander stehen zu lassen: Hier vertraue ich dir, hier nicht. Hier verzeihe ich dir, hier nicht.

 

Wie kommt die transgenerative Weitergabe zustande?

Traumatisierte fühlen sich bedroht von allem Möglichen (von Nachbarn, Kollegen, dem, was in der Zeitung steht …). Elemente des Erlebens der traumatischen Situation, die Bewältigungsstrategie und das seelische Alleinsein danach werden an die nächste Generation weitergegeben. Diese hat dann das Gefühl, alles allein schaffen zu müssen und weiß oft gar nicht, woher das kommt. Die Kinder spüren die Leere und Symptome der Eltern, ohne zu wissen, warum.

Wie kommt das? Aus psychologischer Sicht hängt es mit den Spiegelneuronen zusammen. Aus feinstofflicher Sicht (meine favorisierte Sichtweise) hängt es damit zusammen, dass wir alle miteinander verbunden sind über das morphische Feld. Menschen können die Gefühle anderer Menschen spüren. Menschen haben Mitgefühl.

Die Amygdala als Teil des limbischen Systems ist dazu da, existenzielle Bedrohungen zu bewerten. Sie funktioniert ohne kognitive Kontrolle. Die Spiegelneurone der Kinder feuern dann und versuchen, ein ähnliches Erleben herzustellen, wie sie es bei den Eltern fühlen. Das Erleben arbeitet immer mit Ähnlichkeit.

Dr. Baer arbeitet in seiner Praxis mit kreativer Leibtherapie. Er berichtete, dass nach einer erfolgreichen Therapie bei seinen Klienten so etwas wie ein Nachholen der Pubertät einsetzt. Schließlich hatten weder die Eltern noch die Kinder eine normale Pubertät und während der Therapie, so meinte er, kommt bei den Klienten die Frage auf: Wer bin ich eigentlich – ohne den alten Schrott, ohne diese Leere, ohne diese Last? Wenn die Eltern traumatisiert sind, dann ist das wie eine Ascheschicht. Das Leben fühlt sich gebremst an.

 

Fazit

Zum Schluss berichtete Dr. Baer darüber, dass es mittlerweile Wertschätzungsgruppen in Altenheimen gibt, in denen die Menschen über ihre Kriegserfahrungen reden. Das lässt hoffen!

Denn die Themen Altenheim, Altenpflege, Alterssuizid, die höhere Lebenserwartung und die nicht aufgearbeiteten Traumata der älteren Generation sind  ja bisher in unserer Fun-und-Konsum-Gesellschaft fast schon Tabuthemen. Sie stören. Früher waren alte Menschen in die Großfamilien integriert, hatten ihre Aufgaben, sahen ihre Enkel aufwachsen…

Heute sind die Familien zersplittert und die älteren Menschen sind zwar eine Geldeinnahmequelle fürs „Gesundheits“wesen, aber eine Last für den „Staats“haushalt. Wie schön, wenn sich Menschen aufmachen, um mit den Älteren ins Gespräch zu kommen, um ihnen zuzuhören, ihnen Wertschätzung entgegen zu bringen.

Am Ende des Vortrages beantwortete Dr. Baer noch etliche Fragen. Mich hat dieser Vortrag sehr bereichert, zumal es schon einige Zeit her war, dass ich das Buch gelesen habe. Sehr sympathisch fand ich, dass Dr. Baer auch einige Beispiele aus seinem eigenen Leben erzählte. Ich füge hier ein kurzes Video mit ihm ein:

 

 

4 thoughts on “Vortrag von Dr. Udo Baer zum Thema „Wie Traumata in die nächste Generation wirken“ (transgeneratives/transgenerationales Trauma)

  1. Ulrike Sennhenn

    Liebe Heike,

    danke für diesen tollen, ausführlichen Bericht! Ich lese gerade das Buch „Wie Kinder fühlen“ von Udo Baer, habe ihn auch kürzlich auf einem kurzen Vortrag erlebt und bin sehr begeistert von seiner Arbeit.

    Liebe Grüße, Ulrike

    Antworten
    1. Heike Schulze Beitragsautor

      Danke für Dein Feedback, liebe Ulrike! Da sind wir wohl derzeit beide ein wenig auf dem „Baer-Trip“? 😉 Ich habe gerade sein Buch über Trauer ausgelesen und finde es witzig, dass Du ihn auch gerade auf einem Vortrag erlebt hast. Das Buch „Wie Kinder fühlen“ scheint auch sehr interessant zu sein. Ich habe gerade in Deinem Blog den Auszug über Wut und Sehnsucht gelesen – spannend! Liebe Grüße, Heike

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  2. Claudia

    Ein sehr hilfreicher, informativer Artikel, bei dem mir die Augen aufgingen. Ich werde mir eines der Bücher von Herrn Prof. Baer besorgen und mich mit dem Thema auseinandersetzen. Vielen Dank!

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    1. Heike Schulze Beitragsautor

      Liebe Claudia, danke für Dein Feedback. Ich freue mich darüber, dass mein Blogartikel ein „Augenöffner“ für Dich war und wünsche Dir ein angenehmes Leseerlebnis und noch viele weitere Aha-Effekte mit dem Buch, das Du Dir bestellst.

      Liebe Grüße,
      Heike

      Antworten

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